Der Traum vom Podium

Deutschland Tour: Ein Tag im Teamauto mit Gerald Ciolek (Team Dauner Akkon)

Es herrscht sonnige Gelassenheit am Samstag-Vormittag in Göttingen. Auf der Bühne stellt ein Moderator die dritte Etappe der Deutschland Tour vor. Zwei Stunden vor dem Start ist die Zahl der Zuschauer davor noch überschaubar.

50 Meter von der Bühne entfernt stehen die Autos des Kölner Dauner Akkon Pro Cycling Teams. Ein Dutzend Teammitglieder – Fahrer, Hostessen, Mechaniker – bereiten sich auf die Etappe vor. Gerald Ciolek, einer der beiden Sportlichen Leiter vor Ort, prüft, ob im Teamauto alles Nötige vorhanden ist, Flaschen, Verpflegung, Ersatzteile, Karten. Immer wieder grüßt ihn einer der Passanten. Gerade war André Greipel da, der, wie Ciolek, in Köln wohnt.

Auf der Bühne fängt jetzt die Einschreibung der Fahrer an. Zu den Ersten gehören die Dauner-Akkon-Fahrer. Jung sind sie, 19 bis 23 Jahre – während die Fahrer im Team Dimension Data im Schnitt 33 Jahre alt sind. Nach der Einschreibung bleiben sie neben der Bühne stehen, am Stand von Dauner, einem Mineralwasser-Anbieter, der 2019 zu den Sponsoren der Deutschland Tour gehört und auch einer der Geldgeber beim Kölner Team ist.

Sie wirken ebenfalls gelassen, auch wenn der bisherige Verlauf des Etappenrennens nicht optimal für das Team verlaufen ist. Am ersten Tag, auf der Etappe von Hannover nach Halberstadt, gab es zwei schwere Stürze, bei dem sich der Älteste im Team, Philipp Mamos (36), so stark am Schultergelenk verletzte, dass er am nächsten Tag nicht mehr antreten konnte. Das große Ziel, in einer Fluchtgruppe vertreten zu sein, verfehlten die Kölner zum Auftakt der Deutschland Tour.

Dieter „Didi“ Senft fehlt bei kaum einem großen Radrennen.

Gleiches Bild am Tag zwei. Die wellige Etappe über 202 Kilometer nach Göttingen war für die Kölner zu schwer. Die ersten beiden Rennstunden absolvierten die Fahrer mit durchschnittlich 46 km/h – im Rennen treffen dann doch verschiedene Welten aufeinander, Continental-Teams wie Dauner Akkon mit Fahrern, die meist nicht hauptberuflich auf dem Rad sitzen, und Vollzeitprofis aus den 15 vertretenen World-Tour Teams, darunter der Weltranglistenerste Julian Alaphilippe (Deceuninck – Quick Step) und der frühere Tour-de-France-Sieger Geraint Thomas (Team Ineos).

Begehrter Gesprächspartner: der belgische Shootingstar Remco Evenepoel. 

Für die Dauner Akkon-Fahrer ist die Deutschland Tour bisher das größte Rennen. Mit einer Wildcard konnten sich die Kölner platzieren. Der Veranstalter, die französische Tour de France-Organisatoren ASO, lobt Dauner-Akkon dafür, bei wichtigen Nachwuchsrennen auf sich aufmerksam gemacht und unter anderem mit Dominik Bauer bei der U23-Ausgabe von Eschborn-Frankfurt den bestplatzierten deutschen Fahrer gestellt zu haben. Im Vorjahr habe das Team bei der Deutschland Tour mit ihrer offensiven Fahrweise Eindruck hinterlassen.

Die Dauner-Akkon-Fahrer glänzten bei der Deutschland Tour 2018 mit offensiver Fahrweise. (Foto: deutschland Tour, Papadopoulos)

Auf und vor der Bühne wird es allmählich voller. Bis kurz vor dem Startschuss schreiben sich die Fahrer ein. Besonders bei den deutschen Fahrern schwillt der Applaus im inzwischen vollen Publikum an: darunter Pascal Ackermann, Sieger der ersten Etappe, der Profi-Veteran André Greipel, Tour-de-France-Etappensieger Simon Geschke.

Pascal Ackermann bei der Einschreibung.
Simon Geschke, Tour de France-Etappensieger, bei der Einschreibung

Bei Dauner-Akkon steht eine letzte Besprechung an, bei der die Sportlichen Leiter, Serge Christen und Gerald Ciolek, die Taktik des Tages angeben. „Sie müssen heute mitmachen, sich beteiligen, aber auch den ersten Berg im Hinterkopf haben – 3,3 Kilometer, 5,6 Prozent Steigung“, fasst Gerald Ciolek das Ergebnis der Sitzung kurz darauf im Teamauto zusammen.

13 Uhr, der Start. Das Feld der Radprofis wird durch Neutralisation bis zum offiziellen Start geführt. Auf den ersten Kilometern nehmen die Teamautos die vorher vom Veranstalter festgelegte Reihenfolge ein. Die Skodas von Dauner Akkon fahren heute ziemlich weit hinten, analog zur Position der Fahrer im Gesamtklassement. Aus dem Auto heraus sind die Fahrer nicht zu sehen. Was vorne passiert, erfahren wir – Gerald Ciolek, Mechaniker Merlin Heyde und der Autor des Artikels – nur aus dem schwarzen Kasten auf dem Amaturenbrett. „Radio Tour“ heißt der Sender, über den die Organisatoren während des Radrennens Informationen an die Teamautos verteilt.

Kurz nach dem Start im Teamauto.

Um 14.15 Uhr folgt der eigentliche Start. Das Tempo der Fahrer nimmt direkt zu, gleiches gilt für den Speed der Teamautos, die sich gerne mit hohem Tempo und quietschenden Reifen in die Kurven legen.

14:25 Uhr: Radio Tour meldet, dass sich mit Julian Alaphilippe (Deceuninck-Quick Step) und Mads Pedersen (Trek-Segafredo) ein Fluchtduo vom Peloton abgesetzt hat. Und kurz darauf, dass sich ein dritter Fahrer mit der Nummer 184 auf die Verfolgung der beiden gemacht hat. Es dauert ein bisschen, bis der Sprecher Namen und Team nachreicht: Miká Heming von Dauner Akkon. Im Teamauto steigt die Anspannung. „Allez, Miká, einmal tiefgehen, versuch’ da hinzufahren“, feuert Gerald Ciolek seinen 19-jährigen Schützling durchs Funkgerät an. 40 Sekunden Vorsprung hat das Duo aufs Verfolgerfeld, dazwischen fährt Heming, mit Platz 96 der bestplatzierte Fahrer des Teams im Gesamtklassement.

Miká Heming an der Spitze der Dreiergruppe. Foto: Deutschland Tour

13:29 Uhr: Radio Tour meldet, dass Heming die Lücke geschlossen hat. „Gut gemacht! Erhol’ dich jetzt. Pass auf, Du bist in einer starken Gruppe“, rät Ciolek seinem Schützling. Und: „Guck, dass du gut über den Berg kommst“ – in 20 Kilometern, bei Heiligenstadt, steht die erste Bergwertung des Tages an.

Bis dahin wächst der Vorsprung des Führungstrios schnell über eine Minute. Das zweite Teamauto mit Serge Christen am Steuer darf jetzt nach vorne fahren, um sich direkt hinter der Fluchtgruppe zu positionieren. Kurz darauf ist der Vorsprung auf über drei Minuten gestiegen. „Die werden denen vielleicht vier, fünf Minuten Vorsprung geben, nicht mehr“, erwartet Ciolek. Übers Telefon stimmt sich der Kölner mit seinem Kollegen im anderen Teamauto ab: Mika solle mit seinen Kräften haushalten. „Das sind junge Pferde, die muss man im Zaum halten“, erklärt Ciolek. Ihne fehle die Erfahrung – am Vortag sei Heming schließlich zum ersten Mal in einem Rennen mehr als 200 Kilometer gefahren.

Multitasking vor dem Start am Steuer: Gerald Ciolek.

Inzwischen sind die führenden Fahrer am ersten Berg angelangt. Über den Funk fragt Heming nach, ob er versuchen solle, die Bergwertung zu holen. Positiv, lautet die Antwort von Ciolek. Er solle sich mit seinen Mitfahrern abstimmen, dass sie ihm die Wertung überlassen.

Kurz nach 14 Uhr: Heming hat tatsächlich die Bergwertung in Heilbad Heiligenstadt und drei Punkte im Klassement gewonnen. Ciolek schaut in die Tabellen der bisherigen Bergwertungen. Mehr als drei Punkte hat bisher keiner erzielt. Heming kann sich heute auf der Flucht das Bergtrikot sichern, später dann in Eisenach auf dem Podium stehen – das wäre die Antwort des Teams auf den bisherigen Tourverlauf.

7 Minuten 30 Sekunden beträgt der Vorsprung jetzt aufs Peloton, 40 Kilometer nach dem Start, 159 Kilometer to go. Wir fahren an Mark Cavendish vorbei, der den zweiten Reifenschaden hat, mehrere weitere sollen folgen. Radio Tour meldet, dass Pascal Ackermann gestürzt ist. Kurz darauf fahren wir an Deutschlands Vorzeigesprinter vorbei, Trikot und Haut sind deutlich aufgeschürft – ein Sturz, der am nächsten Tag zur Aufgabe des Fahrers führen sollte.

Vom Teamauto ist das Peloton kaum zu sehen.

Ciolek schaut ins Roadbook, aufs Profil der Strecke am nächsten Tag, der Schlussetappe nach Erfurt. Wieder ein sehr welliges Profil. Wie wäre es, wenn sich sein Schützling das Bergtrikot nicht nur heute, sondern sogar der gesamten Deutschland Tour sichern könnte?

Ein kurzes Gedankenspiel, dann werden über Funk Getränke bestellt. Ciolek rast links an der Autokolonne vorbei und bis ans Feld heran, einer seiner Fahrer lässt sich zurückfallen und nimmt von Ciolek vier Trinkflaschen entgegen, die er sich unters Trikot stopft. Dann wieder ab ins Feld und die Flaschen bei den Kollegen abliefern.

Rasante Abfahrt zwischen den Teamautos

14:45 Uhr: Die Verfolger machen Tempo, der Vorsprung ist auf 6:50 Minuten gesunken. Vorne im Peloton hat UAE Team Emirates die Nachführarbeit übernommen – sie fahren für ihren Kapitän Alexander Kristoff, der im Roten Trikot des Gesamtführenden unterwegs ist.

15:06 Uhr: Der Vorsprung ist auf 5:35 Minuten gesunken. Es ist heiß auf der Strecke, dennoch liegt der Schnitt bis dato bei 40 km/h. Heming fährt vorne zwar seine Ablösungen mit Alaphilippe und Pedersen, aber achtet darauf, kürzer als die anderen im Wind zu fahren, um Kräfte zu sparen. Die Hoffnung der Sportlichen Leiter: nach 151 Kilometern die zweite Bergwertung an der Hohen Sonne (1,8 Kilometer, 6,5 Prozent) gewinnen und ins Bergtrikot fahren. Wer danach das wellige Finale – auf den letzten 40 Kilometern drei Anstiege durch den nordwestlichen Thüringer Wald – meistert und die Etappe gewinnt, ist dann egal.

Der Kamerahubschrauber kreist über der Fahrzeugkolonne

Heming sichert sich nach der ersten Bergwertung auch die Sprintwertung in Treffurt bei Kilometer 78.

90 Kilometer sind geschafft, der Abstand liegt noch bei 5:25 Minuten. Radio Tour meldet, dass neben UAE Team Emirates auch das ostdeutsche Team P&S Metalltechnik die Nachführarbeit übernimmt. Ausgerechnet. P&S ist wie Dauner Akkon ein Continental Team – was in dieser Situation offenbar aber keine Solidarität bedeutet. Im Gegenteil: Der Wettbewerb unter den KT-Mannschaften (steht für Kontinentale Teams) ist untereinander eher größer. Sie müssen sich gegeneinander profilieren, auf sich aufmerksam machen, um zu wichtigen Rennen zugelassen zu werden.

Langsame Fahrt im Tross der Teamfahrzeuge

Und einmal den Sprung ins Pro-Continental-Lager zu schaffen? „Das ist für uns kein Thema“, sagt Ciolek. Auch wenn die Dauner-Akkon-Infrastruktur schon heute sehr gut sei – zu hoch wäre das Budget, das für den Sprung erforderlich sei. Stattdessen wolle man sich noch stärker auf den Nachwuchs konzentrieren, zu einem der wichtigsten Sprungbretter für junge Fahrer werden. Dies sei ein realistisches Ziel, das auch der Sponsor teile. „Das Niveau unter den KT-Teams ist heute nicht so gut. Es fehlt eine U23-Kaderschmiede, wie es früher Stölting war.“ Die World-Tour-Fahrer Lennard Kämna und Max Walscheid fuhren früher bei Stölting.

16:11 Uhr: Ineos und Astana haben sich in die Nachführarbeit eingeschaltet, der Vorsprung sinkt auf unter 4 Minuten. Jetzt geht es schnell. Zehn Minuten später liegt der Vorsprung unter 3 Minuten. Das Spitzentrio ist auf dem Weg hinauf zur zweiten Bergwertung. Auf Eurosport erinnert der Kommentator an den Sieg des Dauner-Akkon-Strategen Gerald Ciolek beim Klassiker Mailand-Sanremo, speziell daran, wie der Kölner seinerzeit noch kurz vor dem Rennen im Trainingslager die Erwartungen gesenkt hatte. „Tief stapeln, um hoch hinaus zu kommen“, murmelt Ciolek am Steuer beim Blick auf die Eurosport-Übertragung.

1:40 Minuten beträgt der Vorsprung nur noch, kurz bevor das Trio die Bergwertung erreicht. „Warum wollen die das Trio schon 40 km vor dem Ziel einholen?“, wundert sich Ciolek. Kurz darauf gibt Radio Tour durch, dass der Dauner-Akkon-Fahrer vorne zurückfällt und Alaphilippe und Pedersen davonziehen.

Im Auto wird’s still. Der Traum vom Bergtrikot ist geplatzt. Wenige Minuten später ist Heming ins Hauptfeld zurückgefallen. Und doch ist man sich schnell dessen bewusst, dass die 140 km lange Flucht von Heming so oder so ein Riesenerfolg war – für das Team, für den Sponsor, in erster Linie für den Fahrer, der so lange mit einem Weltklassefahrer wie Alaphilippe mithalten konnte.

Der Franzose sichert sich noch die Bergwertung an der Hohen Sonne, Pedersen 27 Kilometer vor dem Ziel die Sprintwertung bei der ersten Zielpassage in Eisenach – danach ist auch ihre Flucht bald beendet. Das Tempo zieht an, das Feld zieht sich in die Länge, ein Topfahrer nach dem anderen wird von der Spitze abgehängt, der Gesamtführende Kristoff, außerdem Thomas, Cavendish, Ackermann, Kämna, Denz… Es bildet sich eine 20-köpfige Spitzengruppe, in der alleine fünf Fahrer von Deceuninck – Quick Step mitfahren, außerdem Emanuel Buchmann und Simon Geschke, die es mit einer eigenen Attacke versuchen – vergeblich.

Viel los im Zielbereich in Eisenach.

Von Dauner Akkon mit dabei ist Sven Thurau (nicht verwandt mit Didi T.), der im Finale aber nichts mehr ausrichten kann. Auf den letzten drei Kilometern löst sich zunächst der Belgier Jasper Stuyven und bekommt kurz darauf Begleitung durch Kasper Asgreen. Im Schlusssprint setzt sich der Däne gegen Stuyven durch und gewinnt die Etappe.

Ein Held des Tages: Miká Heming, umringt von Reportern.

Nach und nach trudeln die Fahrer des Kölner Teams am Mannschaftsbus ein. Ausgepowert, aber zufrieden. Ein Kameramann nähert sich mit einem Reporter, um Miká Heming zu interviewen. Der berichtet souverän von seiner Flucht, seinem bisher größten Erlebnis als Profi.

Wie ist Deine Flucht zustande gekommen?

Wir haben heute morgen schon beschlossen, dass wir möglichst in die Fluchtgruppe gehen. Ich sollte dabei ein Auge aufhalten, mitfahren, wenn sich etwas bewegt. Ich sah dann, dass Remco Evenepoel gegangen ist, aber keiner dabei war. Ich hatte gute Beine, also bin ich hingesprungen. Dann gingen Alaphilippe und Pedersen drüber. Ich dachte: das ist jetzt die Gruppe. Musste dann ziemlich viel Kraft investieren, um da auch hinzukommen. Alaphilippe hat zwischendruch rausgenommen, sonst wäre ich da nicht hingekommen. So kam die Gruppe zustande.

Was war das für ein Gefühl, mit diesen Fahrern unterwegs zu sein?

Das sind zwar auch nur Rennfahrer, aber ein Traum war es doch für mich.

Auch bei der Tour of Utah warst du kürzlich in einer Fluchtgruppe.

Genau, auf der zweiten Etappe war das. Bei ienme Berg sind wir dann gestellt worden. Ich fiel dann aus dem Zeitlimit, weil die Flucht einfach zu hart war. Die drei Wochen auf der Höhe, auf über 2000 Höhenmetern, waren eine gute Vorbereitung auf die Deutschland Tour.

War die zweite Bergwertung Dein primäres Ziel?

Richtig, ich wollte natürlich etwas mitnehmen, auch wenn ich mit dem besten Radfahrer der Welt unterwegs war. Zehn Kilometer vor dem Ziel habe ich aber gemerkt, dass es nicht mehr reicht. Ich war komplett tot. Und ich musste ja noch über die letzten Berge kommen.

Welchen Stellenwert hat der Tag heute?

Das war sicher der schönste Tag in meiner Karriere.

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