Groß und größer, tolle Qualität der Räder und Zubehörprodukte, zahlreiche Innovationen – nach diesem Muster haben Radclub-Mitglieder in den vergangenen Jahren einige Hersteller der Fahrradbranche im Rahmen von Betriebsbesichtigungen kennengelernt, darunter Cube, Derby Cycle, Busch und Müller, SKS und viele mehr. Der Besuch bei Riese & Müller Ende Februar – in dem Jahr, in dem das Unternehmen 30-jähriges Bestehen feiert – war vor diesem Hintergrund dennoch etwas ganz Besonderes. Denn das Unternehmen aus Mühltal bei Darmstadt setzt besonders bei den Themen Nachhaltigkeit und Betriebsklima eigene Maßstäbe – und verfügt überdies über eine sehr interessante Firmengeschichte.

Die Geschichte – in der Garage fing alles an
Die Geschichte von Riese & Müller beginnt – während der Semesterferien im Maschinenbaustudium an der TU Darmstadt – bei einer vierwöchigen, 3000 Kilometer langen Reise von Heiko Müller und Markus Riese Anfang der 1990er Jahre durch die Wüste Tunesiens. Die beiden Studenten entdecken ihre gemeinsame Passion fürs Fahrrad. Bald darauf, wir schreiben das Jahr 1992, hat Markus Riese die Idee, ein Faltrad zu konzipieren, mit einem vergleichsweise hohen Fahrkomfort. Der Clou: Federt man ein Fahrrad voll, so kann man dessen Federungsdrehpunkte gleichzeitig als Drehpunkte zum Falten nutzen. „Die Lager für die Aufhängungsanordnung dienen gleichzeitig für den Faltvorgang und sind so angeordnet, dass auf das Schwenklager im Hauptrahmen verzichtet werden kann“, heißt es in der Offenlegungsschrift des Deutschen Patentamts vom 3. November 1994.

Der erste Entwurf besteht aus Pappe und zeigt die Form des Rads. Anschließend nutzen Markus und Heiko die Garage von Heikos Eltern, um in zehn Tagen und Nachtschichten aus Teilen vom Schrottplatz einen Prototypen zu schweißen und zusammenzuschrauben, denn: Mit dem Prototyp aus Aluminium will sich das Duo für den „Hessischen Innovationspreis“ bewerben. Mit dem Preis im Gepäck fährt das Duo zur Fahrradmesse EuroBike nach Friedrichshafen. Im Folgejahr erzielt das Klapprad dort die Aufmerksamkeit eines asiatischen Produzenten – die Geburtsstunde des „Birdy“-Klapprads. Seit Juni 1995 ist das Birdy in Deutschland, Japan und den USA offiziell zu kaufen – bis heute wird es hergestellt.


Zwar ist das „Birdy“ inzwischen das einzige unmotorisierte Rad im Riese & Müller-Portfolio. Die Philosophie dahinter ist geblieben: höchste Qualität, langlebig und sicher – niemand sollte sich bergab mit Tempo 50 vor einem Schlagloch in der Straße fürchten müssen.

Bis 2012 lag der Fokus auf Reise- und Trekkingrädern. 2012 kam das erste Lastenrad (“Load“) auf den Markt – genau genommen hatte Markus Riese schon während der Schulzeit ein erstes Cargo-Bikes konstruiert; der erste Versuch im Jahr 2001, Käufer für ein solches Lastenrad zu finden, scheiterte jedoch zunächst („Es war ein totaler Flop“). Dies sollte sich später ändern…
Als Bosch mit eigenen Motoren auf den E-Bike-Markt vorstieß, orientiert sich auch Riese & Müller um in Richtung „E“. Der Fokus liegt seitdem auf Premium-E-Cargo-Bikes und E-Bikes für die Alltagsmobilität.

Riese & Müller in Zahlen und Fakten
- Firmenführung: Das Unternehmen ist bis heute inhabergeführt. Neben dem Gründer Heiko Müller ist Dr. Sandra Wolf als geschäftsführende Gesellschafterin für die strategische Ausrichtung verantwortlich. Markus Riese ist als Gesellschafter und Experte für Innovation und Produktentwicklung im Unternehmen tätig.
- 900 Mitarbeitende aus 48 Nationen werden am Standort Mühltal bei Darmstadt beschäftigt – zum Vergleich: Vor sechs Jahren lag die Zahl noch bei 200 MitarbeiterInnen; Durchschnittsalter: 38 Jahre.
- Der Umsatz lag im Geschäftsjahr 2021/22 etwa bei 350 Millionen Euro. In der Corona-Zeit ist R&M um rund 60% gewachsen bei den Erlösen.
- Im vergangenen Geschäftsjahr hat das Unternehmen etwa 113.000 E-Bikes produziert, davon 67% in Deutschland.
- Pro Tag werden bis zu 700 Räder produziert, darunter rund 80 Cargobikes.
- 70% der Räder haben einen Riemenantrieb.
Mobilität von morgen gestalten
Die Mission des Unternehmens lautet heute: „Wir sind die Macher der Mobilität von morgen“. Demnach sollen E-Bikes kein Ersatz für Fahrräder sein, die allein mit Muskelkraft angetrieben werden, sondern für das Auto. Aktuell gibt es mehrere Pilotprojekte, die zeigen, in welche Richtung Riese & Müller steuert:



Hohe Nachhaltigkeitsziele
Ehrgeizige Ziele verfolgt das Unternehmen auch beim Thema Nachhaltigkeit. Bis 2025 will man „das nachhaltigste Unternehmen der E-Bike-Branche“ werden – daran arbeitet R&M bereits seit 2018. Einige bereits absolvierte Schritte auf dem Weg dorthin:
- Mit vielen der über 170 Zulieferer hat R&M Nachhaltigkeits-Projekte umgesetzt.
- Eine Arbeitsgruppe hat beispielsweise Verpackungsmaterial systematisch geprüft und 131 Verbesserungen vorgenommen, um weniger Müll zu produzieren. So werden beispielsweise die Bosch-Motoren inzwischen auf Eier-Kartons statt Styropor geliefert. R&M verzichtet auf zweifarbige Lackierungen und hat so den Einsatz von Farbe, Folie und Tape reduziert. Beim Klebeband hat R&M überdies den Klebeband-Einsatz im Schnitt pro Rad um 65% gesenkt, was pro Jahr insgesamt 45.000 Meter ausmacht.
- Ein eigener Verantwortungsbericht dokumentiert jährlich die Maßnahmen.
- Seit drei Jahren bezieht R&M die eigenen Rahmen nicht mehr nur aus Asien, sondern auch aus Portugal.
Familienfreundlicher Betrieb
Die Firmengründer sind Familienmenschen, das zeichnet sich auch im Unternehmen ab. Anders als viele andere Fahrradhersteller arbeitet R&M nur im Ein-Schicht-Betrieb, z.T. mit individuellen Arbeitszeitmodellen; es gibt außerdem keine Wochenend-Arbeit. Das Unternehmen verzichtet also auf Umsatz, um das Familienleben der MitarbeiterInnen zu schonen.
Dass den Firmenchefs ein gutes Betriebsklima wichtig ist, zeigt sich auch an anderen Stellen:
- Es gibt SpezialistInnen (SozialarbeiterInnen, zusammen mit den Abteilungen People & Culture und Learning & Development), die sich hauptsächlich um das Thema Integration der Mitarbeitenden aus 48 Nationen kümmern.
- Alle „Neuen“ durchlaufen denselben mehrwöchigen Onboarding-Prozess, dort lernen also angehende ManagerInnen aus der Verwaltung direkt auch die KollegInnen aus der Produktion kennen.
- Es gibt eine Anti-Diskriminierungsstelle, außerdem Psychologen und Sozialarbeiter.
Impressionen aus dem Unternehmen








