Gerald Ciolek: Wie der Sportliche Leiter des R2C2 Mailand-Sanremo gewann

Es dämmert schon in Sanremo, als sechs Fahrer am Corso Raimondo die Flamme Rouge passieren. Der feuchte Asphalt reflektiert das Scheinwerferlicht des Kamera-Motorrads, das dem Sextett folgt. Die Fahrer tragen teilweise dicke Winter-Mützen unter den Helmen und Handschuhe. Die Gesichter sind von den Anstrengungen der letzten Stunden gezeichnet, Schlammspritzer haben die Trikots besprenkelt. Kurz zuvor hatte der Sky-Fahrer Ian Stannard noch einmal versucht, mit einer Tempoverschärfung seine Verfolger abzuschütteln. Doch es gelingt dem Slowaken Peter Sagan (Cannondale), einmal mehr die Lücke zu schließen. Unmittelbar an seinem Hinterrad fährt der Deutsche Gerald Ciolek.

Foto: Hennes Roth

Der Fahrer aus dem südafrikanischen Continental-Team MTN-Qhubeka ist so dicht an Sagan dran, dass sich dieser mehrfach umdrehen muss, um in der alles entscheidenden Phase des Rennens seine brandgefährlichen Rivalen dahinter ins Auge zu nehmen. Hinter Ciolek positioniert sind der Schweizer Klassikerjäger und mehrfache Zeitfahr-Weltmeister Fabian Cancellara (RadioShack-Leopard), der 2008 bei Mailand–Sanremo den Sieg davontrug, der italienische Katusha-Fahrer Luca Paolini, wenige Wochen zuvor beim belgischen Halbklassiker Omloop Het Nieuwsblad siegreich, sowie Sylvain Chavanel (Omega Pharma-Quick-Step), der sich eine Woche zuvor die Punktewertung bei der Radfernfahrt Paris–Nizza gesichert hatte. 

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Jetzt beginnt das Taktieren, die Fahrer drehen sich zueinander um, nehmen Tempo raus. Als sich Taylor Phinney (BMC) von hinten der Gruppe nähert, startet Peter Sagan seinen Sprint, rund 200 Meter vor dem Ziel. Der große Favorit des Rennens sieht wie der sichere Sieger aus, wie bereits eine Woche zuvor, als er beim Etappenrennen Tirreno–Adriatico zwei Etappensiege – einen im Massensprint und einen aus einer Gruppe heraus – erlangen konnte. Bis sich Ciolek aus seinem Windschatten löst, links zu Sagan aufschließt und unter heftigem Nicken des Kopfes sogar an Sagan vorbeischiebt. Erst nach dem Zielstrich hat Ciolek realisiert, dass er gerade den wichtigsten Sieg seiner Karriere und den größten Erfolg für sein Team erlangt hat. Mit einem lauten Schrei begleitet der Kölner seinen Erfolg, unter dem ungläubigen Seitenblick von Sagan. Ein Schrei, in dem noch viel mehr mitschwingt als die Freude eines Überraschungssiegers.

Gerald Ciolek ist Sportlicher Leiter des R2C2. Foto: Stefan Mays

La Classicissima, wie das Rennen von Mailand nach Sanremo auch respektvoll genannt wird, ist zwar mit 298 Kilometern Distanz das längste Eintagesrennen der Saison, aber trotz der außergewöhnlichen Länge bei den meisten Fahrern beliebt. Die Strecke ist weitestgehend flach und der Rennverlauf meist vorhersehbar: Es gibt oft harmlose Fluchten, so richtig ernst wird es aber erst an der Cipressa und am Poggio di Sanremo, den beiden Anstiegen im Finale des Rennens, wo stets heftig attackiert wird – bevor es am Ende meist aber doch zum Gruppensprint kommt.

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Flamme Rouge. Nur noch 1000 Meter – Radprofis erzählen ihre Schicksalsmomente“, das 2019 im Covadonga Verlag erschienen ist. Hier weitere Infos.

Beliebt ist das erste Monument des Jahres aber besonders, weil die 1907 erstmals ausgetragene „Fahrt in den Frühling“ als landschaftlich attraktiv gilt – wenn hinter dem Turchino-Pass in Richtung Mittelmeer die Sonne scheint und die Blumenküste Liguriens erstrahlen lässt.

Was macht Mailand Sanremo für Sie besonders?

Das Rennen ist durch Erik Zabel bei mir ins Bewusstsein gekommen. Der Erik hat ja viermal in Sanremo gewonnen, ich habe keinen seiner Siege verpasst. Die Rennen habe ich immer im Fernsehen angeschaut.

Was macht das Faszinosum des Rennens aus?

Mailand–Sanremo ist seit Jahrzehnten das immer gleiche Spiel. Es gibt Ausreißer, die meist am Poggio starten. Und doch geht es nicht immer gleich aus. Es gibt oft eine Sprintentscheidung, aber es kommen auch Ausreißer durch, seien es Gruppen oder einzelne Fahrer. Außerdem machen die knapp 300 Kilometer es zu etwas ganz Besonderem. Und am Ende entscheiden Meter oder gar Zentimeter.

Es ist kein Zufall, sondern Ausdruck der damals in Deutschland grassierenden Radsport-Passion, dass Gerald Ciolek 2000, mit 14 Jahren, erstmals selbst in den Sattel steigt, um Rennen zu fahren, zunächst für seinen Heimatverein Pulheimer SC, bevor er 2006 von dem renommierten Radsportfotografen Hennes Roth zur U23-Nachwuchsmannschaft des deutschen Continental-Teams Akud Arnolds-Sicherheit vermittelt wird.

Nur mit einer Wild Card dabei

2007 tritt er erstmals selbst bei Mailand-Sanremo an, mit dem Trikot des – inzwischen fusionierten – Teams Wiesenhof-Akud, und landet auf einem beachtlichen Platz 27. 2008 (inzwischen beim Team Columbia) und 2009 (Milram) folgen zwei weitere Starts, ohne jedoch das Rennen zu beenden. 2012 holt Ciolek Platz 142 für das Team Omega Pharma-Quick-Step, bevor er 2013 zum fünften Mal an den Start geht.

Welche persönlichen Ziele hatten Sie 2013 im Rennen?

Ich war extrem auf das Rennen fokussiert, nachdem mir Teammanager Douglas Rider im Januar die Startzusage gegeben hatte. MTN-Qhubeka war nur mit einer Wild Card dabei, wir wurden als Underdogs gehandelt, wobei ich im Vorfeld schon zwei, drei richtig gute Rennen in dem Frühjahr gefahren war.

Weshalb Erik Zabel Sie im Vorfeld des Rennens als „Geheimtipp“ nannte.

Man kann seine Form ja schon ein bisschen einschätzen. Mein – allerdings nicht nach außen kommuniziertes – Ziel war, unter die Top Ten oder gar Top Five zu fahren. Ich war in einer komfortablen Situation, weil ich nicht als der große Favorit gehandelt wurde.

Wie war die Taktik des Teams?

Wir wollten grundsätzlich primär dabei sein und ins Ziel kommen und uns vielleicht an einer Ausreißergruppe beteiligen. Jens Zemke als Sportlicher Leiter hat damals aber auch in einer Besprechung gesagt, dass wir durch die guten Ergebnisse im Frühjahr eine kleine Chance haben, ein Top-Ergebnis zu erreichen. Die Taktik war auf mich als Leader ausgerichtet, ich hatte Fahrer dabei, die mich den ganzen Tag aus dem Wind gehalten haben.

Schnee macht das Rennen zur Tour de Tortur

Womit Ciolek im Vorfeld des Rennens aber nicht gerechnet hatte: In diesem Jahr gleicht die Fahrt in den Frühling eher einer Tour de Tortur: In der Nacht auf Sonntag hatte es auf dem 588 Meter hohen Turchino-Pass geschneit, die Temperaturen bleiben tagsüber unter null. Die Fahrer sind schon zwei Stunden unterwegs, vom Dauerregen und dann Schnee durchnässt und unterkühlt, als die Organisatoren entscheiden, das Rennen nach 118 Kilometern in Ovada zu unterbrechen. Der Turchino und auch der Anstieg zu Le Manie werden gestrichen. Die halb erfrorenen Fahrer werden stattdessen in Bussen zum Neustart nach Cogoleto, rund 130 Kilometer vor dem Ziel, gebracht, wo die Temperaturen aber auch nur bei sieben Grad Celsius liegen. Die Stimmung im Fahrerfeld ist frostig. Mehrere Favoriten wie der Belgier Tom Boonen und der Italiener Vincenzo Nibali geben entnervt auf. Der Australier Adam Hansen beklagt sich mit Blick auf die Veranstalter: „Wir sind wie die Tiere im Zoo.“

Haben Sie den Neustart auch bedauert?

Durchaus. Im Bus, beim Transfer zum neuen Startort, habe ich auch gedacht, dass der Veranstalter das jetzt eigentlich auch sein lassen könnte. Es war für uns alle extrem. Ich hätte fast geweint, meine Hände waren so kalt. Jeder, dem im Skiurlaub schon mal die Hände fast eingefroren sind, kennt das Gefühl, das wir hatten. Ein Betreuer ist dann auf die Idee gekommen, die Hände mit einem Schneeball abzureiben, das hat geholfen. Aber nach dem Wiederstart war das Rennen eigentlich wie jedes andere auch. Es war nur sehr schwierig, sich noch mal neu zu motivieren im Bus. 

Wie ist Ihnen das gelungen?

Ich habe mir Kopfhörer im Bus aufgesetzt und das Album „Mother’s Milk“ von den Red Hot Chili Peppers, also funkige, peppige Musik. Das hat geholfen.

Wie sind Sie als Radprofi mit Kälte grundsätzlich klargekommen?

Besser als mit Hitze. Ich habe Kälte nie als angenehm empfunden, aber mir ist sie nicht so schwer gefallen wie anderen. Wir waren in dem Jahr Ende Januar im Teamtrainingslager in der Toskana gewesen, und da lagen die Temperaturen auch nur knapp über dem Nullpunkt. Der Körper gewöhnt sich daran.

Debütanten motivieren Ciolek

Was Ciolek in dieser Situation hilft, ist nicht nur seine Wetterresistenz, sondern auch die Unterstützung des Teams für seinen Leader. Was die Sanremo-Debütanten an Erfahrung vor Ort vermissen lassen, machen sie mit guter Laune trotz widriger Bedingungen wett. Unter Cioleks Helfern sind die Südafrikaner Jay Thomson und Songezo Jim, die wertvolle moralische Unterstützung leisten, wenn auch nicht bis zum Ende des Rennens: Der eine, Thomson, der während der Rennunterbrechung versucht hatte, seine eiskalten Gliedmaßen mit einer heißen Dusche noch einmal wiederzubeleben, muss 70 Kilometer nach dem Neustart des Rennens endgültig aufgeben. Sein Sportlicher Leiter Jens Zemke weist ihn an, auf das letzte Betreuerauto zu warten, das Thomson jedoch ebenso wie den Besenwagen verpasst – per Taxi lässt er sich stattdessen für 170 Euro ins Ziel bringen. Jim, erster dunkelhäutiger Fahrer der Geschichte des Rennens, hatte wenige Tage zuvor erstmals in seinem Leben Schnee gesehen – und ist offenbar in Italien so irritiert von den Wetterbedingungen, dass er den vorläufigen Rennabbruch nicht mitbekommt und weiter hinein in den Turchino fährt, bevor er gestoppt wird. Im Jahr zuvor war er beim Rennen Rund um Köln bei ebenfalls schlechtem Wetter nach 70 Kilometern vom Rad gestiegen, klingelte im Bergischen Land bei fremden Leuten und legte sich dort eine Stunde in die heiße Wanne. Bei Mailand–Sanremo unterstützt Jim den Mannschaftskapitän auch nach dem Neustart aufopferungsvoll, bevor er dann doch nach 200 Kilometern der auf 246 Kilometer verkürzten Strecke  aussteigt.

So ist Ciolek bis zur Cipressa, dem vorletzten, 240 Meter hohen Anstieg des Rennens hauptsächlich auf seinen Teamkollegen Andreas Stauff angewiesen, mit dem er als „kölsches Tandem“ regelmäßig im Rheinland trainiert. Die entscheidende Rennphase beginnt allerdings, wie oft bei diesem Rennen, erst am letzten Anstieg, dem 162 Meter hohen Poggio. In der Abfahrt vom Poggio übernimmt die Sechser-Gruppe, die am Ende den Sieg unter sich ausmacht, die Führung. Für Ciolek ist die Ausgangslage doppelt vorteilhaft: Die Beine fühlen sich noch fit an. Und die Aufmerksamkeit der anderen Fahrer konzentriert auf Sagan, den Top-Favoriten.

Welche Erinnerungen haben Sie an diese Phase des Rennens?

Ich wusste, dass ich mit den besten Fahrern am Poggio attackieren musste. Dort hat Sagan attackiert, ich konnte direkt an seinem Rad bleiben, und da hat sich das schon aussortiert. Durch die kurvenreiche, nasse Abfahrt zog sich die Gruppe auseinander. Wir holten Ian Stannard und Chavanel ein, die zuvor ausgerissen waren. Da habe ich tatsächlich gemerkt, dass es klappen könnte. Die Gruppe, die sich gebildet hatte, war für mich von Vorteil. Alle haben auf den Top-Favoriten Peter Sagan geachtet.

Warum Sagan den Deutschen übersieht

Sagan wiederum hat Ciolek trotz seines auffälligen gelb-schwarzen Trikots nicht im Fokus: weil Ciolek nicht in einem der finanzstarken WorldTour-Teams fährt, sondern in der zweiten Radsport-Liga bei MTN. Und weil die großen Siege Cioleks schon lange her sind: 2005, mit 18 Jahren, hatte Ciolek bei den Deutschen Meisterschaften sein Idol Erik Zabel im Sprint besiegt und so die zwölf Jahre währende Dominanz des Telekom-Teams bei den nationalen Meisterschaften beendet – „Ein Jungspund stiehlt Zabel die Schau”, titelte seinerzeit die „Stuttgarter Zeitung“. Im Folgejahr gewann der Kölner im österreichischen Salzburg sogar die U23-Weltmeisterschaft, ebenfalls im Sprint aus einer Sechsergruppe heraus. „Eiskalt dieser Mann, oder? So gut war ich nicht in diesem Alter“, räumte der große Zabel damals ein. 

Dies sind die Sternstunden des jungen Rennfahrers, der fortan in die erste Liga der großen Teams aufstieg, aber das Versprechen auf eine ganz große Karriere meist nicht einlösen konnte. Bei T-Mobile und dem Nachfolgerennstall Columbia war Ciolek 2007 und 2008 der Mann für die kleineren Rennen, der ansonsten aber Sprints für Mark Cavendish anfahren musste. Beim Team Milram hatte Ciolek 2009 und 2010 zwar die Kapitänsrolle, konnte diese aber nicht so ausfüllen, wie es von ihm erwartet wurde. Milram-Sportdirektor Christian Henn sagte nach einem erfolglosen Frühjahr 2009: „Gerald muss sich Gedanken machen – er weiß doch selbst, dass er nicht der Massensprintfahrer ist.“ Bei Quick-Step, wo Ciolek 2011 und 2012 fuhr, war der Belgier Tom Boonen dann der unumstrittene Boss. Die Kritik am deutschen Fahrer nahm zu, und Ciolek zweifelte an sich: Im „Sprint Royal“, bei einer Massenankunft, seien André Greipel oder eben Cavendish einfach eine Nummer schneller als er, räumte er 2012 zerknirscht ein. 

In  einem der ersten Zeitungsartikel über Sie ist von einer „Mischung aus Winokurow und Zabel“ die Rede, also Allrounder oder Sprinter. Wie haben Sie selbst Ihr Profil eingeschätzt?Man hat anfangs immer versucht, aus mir einen reinrassigen Sprinter zu machen, was ich nie war, weil ich dafür am Berg zu viele Qualitäten hatte. Viele meinten, ich fahre ähnlich wie Paolo Bettini. Der war aber auch anders, weil er sich die ganz harten Rennen ausgesucht hat. Heute gibt es den klassischen Sprinter kaum noch, sondern eher Sprinter mit Allround-Qualitäten. So habe ich mich auch gesehen. Oscar Freire war ein ähnlicher Fahrer wie ich, er konnte auch aus 20- oder 30-Mann-Gruppen gewinnen.

„Die ganze Karriere über mit der Erwartungshaltung leben“

Kamen die frühen Erfolge in Ihrer Karriere zu früh für Sie?Sie waren zumindest Fluch und Segen: Sie haben Türen aufgestoßen – viele U23-Fahrer warten Jahre, bis sie zu einem Profiteam wechseln können, ich bekam vier Angebote, was extrem komfortabel war. Andererseits muss man die ganze Karriere über mit dieser Erwartungshaltung leben.

Sie waren besonders erfolgreich, wenn Sie keiner auf dem Schirm hatte.

Im Rennen macht das keinen Unterschied, ob man mit einer Favoritenrolle unterwegs ist oder nicht. Aber es war immer gut, in der Vorbereitung Ruhe zu haben. Wenn von Anfang an aber die Forderung dahintersteht, dass man etwas gewinnen muss, wird es schwierig. In meinem ersten Jahr bei MTN sind wir die Trofeo Laigueglia gefahren. Das war ein extrem schweres Rennen, bei dem ich Vierter wurde. Bei Quick-Step hätten die mit den Achseln gezuckt und gesagt: Beim nächsten Mal wird’s besser. Bei MTN habe ich die Wertschätzung auch für ein solches Rennen erfahren.

Dazwischen liegen viele Jahre…

Ja, ich hatte oft die Leaderrolle, konnte die nicht so ausfüllen, wie es von mir erwartet wurde.

Bei Mailand–Sanremo 2013 ist die fehlende Erwartungshaltung schließlich indirekt der Schlüssel zum Erfolg. Im Trikot der südafrikanischen Equipe segelt Ciolek bis zum Schluss unter dem Radar seiner Kontrahenten in der Spitzengruppe. 

Welche Erinnerungen haben Sie an die letzten 1.000 Meter?

An der Flamme Rouge war ich in einer guten Position, Dritter etwa, und kam an Sagans Rad. Das war der Moment im Rennen, in dem ich dachte, dass es für mich nicht mehr nur um die Top Five geht, sondern den Sieg. Ich fühlte mich gut, die Gruppe war klein genug…

Sagan drehte sich am Ende immer wieder um…

Ja, nicht zu mir allerdings. Sagan hatte mich nicht als schnellen Mann auf dem Schirm. Er ist ja ein paar Jahre jünger als ich. Meine Anfangszeit, in der ich viele Rennen im Sprint gewonnen habe, ist an ihm vorbeigegangen. Er hatte mich nicht auf dem Plan. Das sieht man auch daran, dass er am Ende noch ziemlich viel Arbeit übernommen hat. Im Nachhinein habe ich gehört, dass der Sportliche Leiter ihn sogar noch vor mir gewarnt hat, aber man bekommt dann ja nicht mehr alles mit.

Ciolek zieht am Ende, mit hämmerndem Kopfnicken dicht über dem Lenker, an Sagan vorbei und gewinnt das Rennen, Sagan schaut von der Seite erstaunt zu.

„Jeder Sieg ist eine Genugtuung“

War der größte Sieg Ihrer Karriere auch Ihr liebster?

Doch, schon. Auch weil die Geschichte rund um den Wechsel zu MTN-Qhubeka so schön war. Damals gab es doch einige Fragezeichen: Können wir überhaupt bei den großen Rennen starten? Was kann das Team mir bieten? Alle haben meinen Wechsel irgendwie als Rückschritt wahrgenommen, und plötzlich hatte ich diesen Erfolg. Man fährt über die Linie und weiß, dass keiner einem das mehr nehmen kann: Das gehört jetzt mir.

Eine Genugtuung?

Jeder Sieg ist eine Genugtuung. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich jemandem etwas beweisen muss. Aber die Geschichte war sympathisch. Wir waren eben nicht nur das Team, das fährt, um Rennen zu gewinnen, sondern das auch soziale Ziele in Afrika verfolt Das war einen Ticken cooler.

Was hat der Sieg für das Team bedeutet?

Wir hatten es insgesamt einfacher bei Veranstaltern und Sponsoren. Im Folgejahr sind wir zum Beispiel die Vuelta gefahren.

Doch die Entspannung nach dem Überraschungssieg verfliegt bei Ciolek schon bald, offenbar hemmt die Erwartungshaltung erneut den damals 26-Jährigen. Er erzielt weiterhin vereinzelt Erfolge, wird bei den Deutschen Meisterschaften im Juni zweiter hinter André Greipel, erlangt Etappensiege bei der Bayern- und Österreich-Rundfahrt – doch viel mehr kommt nicht. 2015 läuft sein Vertrag bei MTN aus. Ciolek wechselt zur Stölting Service Group, einem kleinen Pro-Continental-Team, wird im Juni 2016 noch einmal Fünfter bei den Deutschen Meisterschaften – und kündigt wenige Monate später das Ende seiner Profikarriere zum Ende des Jahres 2016 an.

„Die Welt ist mir fremd geworden“

„Zum Profi-Radsport zieht es mich nicht“, haben Sie damals, nach elf Profi-Jahren, gesagt. Warum die völlige Abkehr?

Ich habe mich nicht mehr als Radprofi gefühlt. Die Welt war mir fremd geworden. Das lag auch an meiner Situation – dass die Erfolge gefehlt haben und ich nicht mehr in diesem Sport aufblühen konnte. Ich hatte immer öfter das Gefühl, fehl am Platz zu sein, beispielsweise abends in den Hotels, am billigen Buffet stehend, immer mit denselben Leuten. Du bist 200 Tage im Jahr unterwegs. Mein letztes Jahr bei Stölting war auch schwierig, weil ich auf einmal wieder in einem ganz kleinen Team gefahren bin. Das hat mich auch nicht mehr motiviert.

Haben Sie diese Entfremdung früher schon gespürt?

Ja, sicher. Und so ging es auch anderen Fahrern. Andy Schleck kam mal bei der Tour de Suisse zu mir, kurz bevor er auch aufhörte, und sagte: „Gerald, du bist wie ich, du hast auch keinen Bock mehr.“ Mit Dominic Klemme habe ich mich während der Vuelta mal darüber unterhalten, bei einem meiner letzten Rennen bei MTN. Er sagte: Wir fahren die ganze Zeit nur hinterher, ich möchte mal etwas anderes machen. Wenn man nicht mehr den Drive hat, muss man sich irgendwann zurückziehen.

Warum fehlte der „Drive“?

Das ist ein Kreislauf: Die Motivation stimmt nicht, die Erfolge stellen sich nicht mehr ein, und dann steht das Team nicht mehr hinter einem. Mit 30 muss man zehn Mal mehr Erfolge fahren als mit 20, um bei der Wahl des Teams noch eine Auswahl zu haben. Ich habe keinen attraktiven Vertrag mehr bei einem größeren Team bekommen. Das hätte mich vielleicht noch mal motiviert.

„Wir waren Freiwild“

Was bei Ciolek außerdem hinzu kommt, ist der Zeitpunkt seines Karrierebeginns. Ciolek hat den deutschen Radsport-Hype als Jugendlicher miterlebt, fährt als Jungprofi beim T-Mobile-Team, das wesentlich dazu beigetragen hat, den Radsport in Deutschland in die Breite zu tragen. „Das war dann irgendwann schlagartig vorbei, und dann wurde man teilweise angebrüllt“, so Ciolek. Er erinnert sich an den 24. Mai 2007, den Tag, als Erik Zabel und Rolf Aldag vor die Presse traten, um ihre Doping-Verstöße zu beichten. Am Abend habe er in Bonn mit Mitarbeitern der Telekom eine Ausfahrt gehabt. „Auf der Straße wurden wir angeschrien. Wir waren Freiwild.“

In den rund zwei Jahren nach seinem Abschied zog Ciolek zunächst nichts mehr in den Profi-Radsport. Vielleicht werde er sich einmal im Nachwuchsbereich engagieren, erklärte er im Interview. Einige Monate später ließ er durchblicken, sich bald wieder dem Radsport anzunähern und als Sportlicher Leiter bei einem Kölner Continental-Team zu arbeiten. Seit Mai 2019 ist Gerald Ciolek außerdem Sportlicher Leiter des R2C2. Cioleks Ratschläge für junge Fahrer sind sicherlich wertvoll. Eine seiner Lektionen ist dann vermutlich: wie man mit Erwartungshaltungen umgeht – und sie im richtigen Moment nutzt, um große Siege davonzutragen.

GERALD CIOLEK

Geboren: 19. September 1986 in Köln

Nationalität: deutsch

Profil: Sprinter mit Puncheur-Qualitäten

Teams:
2016 Stölting Service Group
2013–2015 MTN-Qhubeka
2012 Omega Pharma-Quick-Step
2011 Quickstep Cycling Team
2009–2010 Milram
2008 Team Columbia
2007 T-Mobile Team
2006 Team Wiesenhof Akud

Größte Erfolge:
Sieger Mailand–Sanremo (2013)
5 Etappensiege Deutschland-Tour (2008, 2007, 2006)
1 Etappensieg Vuelta a España (2009)
3 Etappensiege Österreich-Rundfahrt (2013, 2007)
Deutscher Meister Straße 2005
U23-Weltmeister Straße 2006

Aus:

Flamme Rouge. Von Daniel Lenz & Florian Summerer. Nur noch 1000 Meter – Radprofis erzählen ihre Schicksalsmomente. Mehr Infos

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