Tour de France-Feeling in den Alpen – R2C2-Racer Frederik Böna bei der L’Étape du Tour 2022

Auf den Spuren von Bernard Hinault und Greg Lemond sind die 16.000 HobbysportlerInnen bei der 30. Austragung der L’Etape du Tour am 10. Juli 2022 gefahren. 1986 kam Bernard Hinault Hand in Hand mit seinem Teamkollegen Greg Lemond ins Ziel der Etappe von Briançon nach Alpe d’Huez – Hinaults letzter Etappensieg bei einer Frankreich-Rundfahrt. R2C2-Mitglied Frederik Böna ist beim Jedermannrennen mitgefahren und schildert für den Radclub seine Erfahrungen.

31 Grad Celsius. Zehn Prozent Steigung. Ich nehme all meinen Mut zusammen und attackiere meine beiden Begleiter. Die Lücke geht auf. Und wird schnell größer. 160 Kilometer habe ich hinter mir. Sieben Kilometer warten noch auf mich. Es geht nur noch bergauf. Hoch, in den berühmten französischen Skiort Alpe d’Huez. Das Ziel der Königsetappe der Tour de France 2022. Deren Daten: 167 Kilometer, 4.700 Höhenmeter. Drei Anstiege der Hors Catégorie, die wohl jedem Radsportfan bekannt sind: Col du Galibier, Col de la Croix de Fer, Alpe d’Huez. Zusätzlich auch noch über den Col du Lautaret und den Col du Télégraph.

Kälte & Sprints

Frederik kurz vor dem Start. (Foto: privat)

Fünf Stunden zuvor: Gemeinsam mit 16.000 anderen Radsportlern stehe ich in der französischen Alpenstadt Briançon. Und friere. Es ist 06:45 Uhr und kalt. 6 Grad Celsius zeigt das Thermometer meines Radcomputers hier auf über 1300 Metern Höhe an. Durch meine Ergebnisse bei anderen Rennen in der Vergangenheit darf ich im ersten Startblock starten. Hier sind es „nur“ noch 1000 andere Fahrer. Doch obwohl ich mich bereits um 06:15 Uhr im Startblock aufstelle, stehen schon rund 700 Fahrer vor mir. Das wirkt sich leider direkt auf meinen Start aus. Als das Rennen um 7 Uhr los geht, bin ich sofort im roten Bereich. Während die Spitze ganz vorne ein gleichmäßiges Tempo anschlägt, gehen vor mir immer wieder Lücken auf, die ich zusprinten muss.

Es geht zwar vom Start weg sofort bergauf. Doch der Col du Lautaret ist von Briançon aus speziell im unteren Teil sehr flach. Das Fahren im Windschatten spielt daher eine große Rolle. Doch Windschatten habe ich in der Anfangsphase selten. Es dauert etwa 13 Kilometer, bis in den kleinen Ort Le Monêtier-les-Bains, bis ich endlich vorne an der Spitzengruppe dran bin. Die verbleibenden 14 Kilometer auf den Col du Lautaret will ich erst einmal möglichst entspannt mitrollen und zur Erholung nutzen. Doch als es kurz danach steiler wird, gibt es sofort die ersten Attacken einiger Fahrer.

Foto: Veranstalter

Schnell bildet sich eine starke Ausreißergruppe mit Fahrern wie Stefan Kirchmair. Diese Gruppe wird den Sieg unter sich ausmachen, da bin ich mir sofort sicher. Leider bin ich viel zu weit hinten und zu erschöpft von meiner Aufholjagd, um mitgehen zu können. Gezwungenermaßen bleibe ich in meiner Gruppe. Doch auch hier hat das Tempo deutlich angezogen. Offenbar will man den Ausreißern keinen großen Vorsprung geben. Immer mehr Fahrer um mich herum fallen aus der Gruppe heraus. Ich selbst halte mich zwar am Ende der Gruppe auf, bleibe aber dran.

Ein Profil für Höhenmeterjäger.

Oben auf dem Col du Lautaret biegt die Straße rechts ab und führt auf den Col du Galibier. 8,6 Kilometer, 559 Höhenmeter. Die durchschnittliche Steigung ist mit 6,5 Prozent eigentlich nicht besonders furchteinflößend. Doch die hohe Geschwindigkeit und die dünne Luft auf über 2000 Metern Höhe lassen mich gerade immer mehr leiden. Ich bekomme gefühlt kaum noch Druck aufs Pedal. 310 Watt, mehr sind nicht drin. Mir geht es nur noch darum, irgendwie an meiner Gruppe dran zu bleiben und mich über den Galibier zu retten.

Offenbar geht es nicht nur mir so. Die Gruppe zerfällt immer weiter. Irgendwann setzt sich rund die Hälfte der Fahrer langsam ab. Hinter den Ausreißern gibt es nun also zwei Verfolgergruppen. Ich bin in der zweiten. Geschätzt sind etwa 50 Fahrer vor mir. Immerhin ist das Tempo in meiner Gruppe nun nicht mehr ganz so hoch. Zum ersten Mal seit dem Start bin ich für eine Zeit lang nicht am Limit. Oben, auf dem Col du Galibier auf 2642 Metern Höhe, ist es immer noch sehr kühl. Eine Weste zieht trotzdem niemand an, jeder stürzt sich sofort in die Abfahrt ins Tal.

Foto: Veranstalter

Enttäuschung & Genuss

Schon nach wenigen Metern kann ich meiner Gruppe nicht mehr folgen. Die Fahrer um mich herum gehen deutlich mehr Risiko ein als ich. Vor jeder Kurve bremse ich viel stärker ab. Es ist eine Highspeed-Abfahrt. Viele Kurven lassen sich noch gerade so ohne Abbremsen ansteuern. Doch auch wenn die Stecke komplett für den Verkehr gesperrt ist – ich kann und will nicht quasi „blind“ auf der linken Straßenseite in eine Kurve fahren, wenn ich nicht weiß, was nach ihr kommt. Dementsprechend bin ich deutlich vorsichtiger unterwegs als andere Fahrer. Und langsamer.

Schnell verliere ich den Anschluss an meine Gruppe. Irgendwann überholen mich die ersten Fahrer von hinten. Ich werde durchgereicht. Für einen kurzen Moment bin ich frustriert. Doch eigentlich ist die Landschaft hier viel zu schön, um wegen ein paar Plätzen enttäuscht zu sein. Die beeindruckende Ausstrahlung der französischen Alpen, das Mont Blanc-Massiv, Kühe auf den Wiesen – all das nehme ich gerade wahr. Und genieße es.

Nach ein paar Kilometern fahre ich auf einen belgischen Fahrer auf. Er fährt noch vorsichtiger bergab als ich. Wir bleiben zusammen. Nach etwa 55 Kilometern passieren wir den Ort Valloire und es geht hinein in den Gegenanstieg auf den Col du Télégraph. Etwas mehr als vier Kilometer und knapp 200 Höhenmeter geht es bergauf. Gemeinsam mit dem Belgier ziehe ich fast einen kleinen Sprint an. Vielleicht schaffen wir es ja, im Gegenanstieg wieder einige Fahrer einzuholen. Tatsächlich sehen wir nach wenigen Minuten eine Gruppe mit mehreren Fahrern vor uns. Doch der Abstand ist bereits zu groß und der Gegenanstieg zu kurz. Wir kommen zwar näher, doch es reicht nicht. Lediglich einen einzelnen Fahrer können wir kurz vor der Passhöhe einholen.

Den Rest der anschließenden Abfahrt hinunter ins Tal nach Saint-Michel-de-Maurienne sind wir zu dritt. Unten angekommen, wartet eines der ganz wenigen Flachstücke des heutigen Tages auf uns. Etwas mehr als 15 Kilometer geht es am Fluss Arc entlang zum Fuß des Col de la Croix de Fer. Da wir nur zu dritt sind, muss jeder einzelne von uns relativ lange Ablösungen im Wind fahren. Das kostet Kraft, doch wir arbeiten gut zusammen.

Foto: Veranstalter

Aufholjagd & Angriff

Direkt im französischen Ort Saint-Jean-de-Maurienne beginnt der Anstieg auf den Col de la Croix de Fer. 29 Kilometer sind es bis zur Passhöhe. Die durchschnittliche Steigung beträgt gerade einmal 5,2 Prozent. Doch das liegt nur an zwei kurzen Zwischenabfahrten und einem relativ langen flachen Abschnitt etwa in der Mitte. Der Col de la Croix de Fer ist alles andere als ein leichter Alpenpass. Das merke ich schon nach wenigen Kilometern, als es plötzlich mit zehn Prozent bergauf geht.

Mittlerweile ist es sommerlich warm. Immer noch zu dritt unterwegs, sammeln wir die ersten Fahrer ein, die zurückfallen. Ein paar Kilometer später schließen wir zu einer größeren Gruppe mit etwa zehn Fahrern auf. Doch wir haben sie kaum eingeholt, als sie plötzlich aus irgendeinem Grund das Tempo deutlich erhöhen. Ich bin irritiert. Haben sie sich gerade verpflegt und sind deswegen langsamer gefahren? Das Tempo ist mir zu hoch und ich muss die Gruppe ziehen lassen. Doch wenige hundert Meter später fahren sie plötzlich langsamer und ich kann wieder aufschließen. Schnell merke ich, dass die Gruppe sehr unrhythmisch fährt. Außerdem bestimmt ein französisches Team die Geschwindigkeit. Jedes Mal, wenn ein anderer Fahrer des Teams die Führungsarbeit übernimmt, führt das zu einem Tempowechsel.

Eigentlich nervt mich das. Aber im Hinblick auf das kommende Flachstück vertraue ich darauf, dass ich von der Gruppe noch profitieren kann. Doch durch die ungleichmäßige Fahrweise gibt es immer wieder Attacken. Absetzen kann sich niemand richtig. Auch nach dem Flachstück nicht. Der zweite Teil des Anstiegs ist in der prallen Sonne. Vielen Fahrern ist die Anstrengung inzwischen deutlich anzusehen. Mir geht es komischerweise gerade richtig gut. Je länger es bergauf geht, desto besser fühle ich mich.

Kurz nach dem Ort Saint-Sorlin-d’Arves greife ich an! Es sind noch etwa fünf Kilometer und 400 Höhenmeter bis zur Passhöhe. Ich schaffe es tatsächlich mich abzusetzen! Auf den letzten Kilometern windet sich die Straße immer wieder in engen Spitzkehren den Berg hinauf. Nach jeder Kehre blicke ich nach unten und sehe, dass der Abstand auf meine Verfolger größer wird. Immer wieder stehen und sitzen Zuschauer am Straßenrand und applaudieren. Die meisten von ihnen sind zwar wegen der Tour de France hier, machen aber auch jetzt schon bei der Étape du Tour eine tolle Stimmung. Das motiviert. Auf den letzten zwei Kilometern hole ich sogar noch ein paar zurückgefallene Fahrer ein.

Hitze & Stolz

Die Abfahrt runter vom Col de la Croix de Fer liegt mir. Das merke ich schon nach wenigen Kilometern. Die Abfahrt ist deutlich technischer als die vom Col du Galibier. Schnell schließe ich zu drei weiteren Fahrern auf, die sich am mich dran hängen. Unten im Tal angekommen, sind es noch rund 15 Kilometer bis nach Bourg d’Oisans und dem Schlussanstieg hinauf nach Alpe d’Huez. Auch dieses Mal habe ich wieder Glück. Die Gruppe harmoniert gut. Bis nach Bourg d’Oisans wechseln wir uns gut im Wind ab. Nach einem Kreisverkehr ist es so weit und der Schlussanstieg beginnt.

Inzwischen ist es heiß. Ich schwitze immer mehr. Doch ich fühle mich immer noch gut. Das sind genau die Bedingungen, die ich mag: trockende Hitze. Meine drei Begleiter können mir nicht mehr folgen. Doch ich will mehr. Ich will sehen, wie viele Fahrer ich noch ein- und überholen kann. Und tatsächlich sammle ich immer wieder einzelne zurückgefallene Fahrer ein. Zuerst nur vereinzelt, doch es werden immer mehr, je näher das Ziel kommt. Offenbar haben sich einige Fahrer etwas übernommen oder kommen mit den hohen Temperaturen nicht zurecht.

Überall stehen bereits Wohnmobile und Wohnwägen. Deutsche, Holländer, Norweger und Engländer. Das Publikum ist international besetzt. Und in guter Stimmung. Nicht einmal auf den letzten Kilometern beim Ötztaler Radmarathon habe ich so etwas erlebt. Ein paar Zuschauer rennen neben mir her und reichen mir eine Wasserflasche. Den kalten Inhalt schütte ich mir sofort über den Kopf. Die letzten Meter ins Ziel führen bereits durch Alpe d’Huez. Ich beschleunige noch einmal und hole zum letzten Mal alles aus mir heraus. Angepeitscht von den Zuschauern hinter den Absperrgittern sprinte ins Ziel. 05:42 Stunden habe ich für die Strecke gebraucht. Das bedeutet Platz 24 insgesamt und Platz 5 in meiner Altersklasse. Und: Kein anderer Fahrer aus Deutschland kam vor mir ins Ziel.

Noch bin ich zu erschöpft, um mich darüber zu freuen. Doch in den Stunden danach weicht die Erschöpfung immer mehr Stolz und Zufriedenheit. Als ich wieder hinunter ins Tal rolle, wird mir bewusst, dass ich gerade einen meiner besten Tage mit dem Rennrad erlebt habe. Ein Radrennen in einer der schönsten Gegenden in den Alpen. Bei tollem Wetter und professionellen Rahmenbedingungen. Eine Massenveranstaltung mit Tour de France-Feeling.

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