4320 km, 41.600 Höhenmeter in 16 Bundesländern – das sind die Koordinaten von Deutschlands erster Gravel-Rennserie „Orbit 360“, die am 4. Juli 2020 begann und am 6. September endet. Eine schöne Herausforderung für Race-Graveller – oder aber die Einladung, wunderschöne Offroad-Strecken im gemächlichen Tempo kennenzulernen. Ein Erlebnisbericht aus Nordrhein-Westfalen.
Das Prinzip von Orbit 360 ist so schlicht wie überzeugend:
- Im Renn-Modus registrieren sich die Teilnehmer gegen kleines Geld auf der Orbit-360-Seite, suchen sich auf Komoot eine oder mehrere Orbits heraus und fahren diese nach Zeit ab – in der Regel alleine, im „Individual Time Trial“-Modus. Die GPX-Aufzeichnungen werden bei Komoot hochgeladen, nach einer Konvention benannt und gewertet.
- Im Entdeckermodus können sich die Teilnehmer einfach kostenlos eine Strecke aussuchen und diese abfahren, ohne gewertet zu werden – ein tolles Angebot, denn die 16 „Orbits“ wurden von Gravel-Enthusiasten mit lokaler Ortskenntnis geplant und getestet.
Die Strecken sind mit im Schnitt 270 km und 2600 Höhenmetern anspruchsvoll, aber jedem Mitfahrer bleibt es überlassen, auch eine Übernachtung unterwegs einzulegen.
Hinter der Initiative stecken die Gravel-Veteranen Raphael Albrecht und Bengt Stiller, die unter anderem das Silk Road Race und das Atlas Mountain Race gefahren sind. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels wurden 400 Orbiter gewertet – der Zuspruch ist ein großer Erfolg für das Organisatorenduo.
Bengt Stiller berichtet beim Gravel und Bikepacking-Themenabend des R2C2 am Freitag, 30. Oktober, ab 17 Uhr, über die Gravel-Rennserie. Hier geht es zur kostenlosen Anmeldung.
Der NRW-Orbit startet für mich in Köln am Müngersdorfer Stadion (eigentlich: RheinEnergie-Stadion) . Es ist Samstag, es regnet seit Stunden, nur leicht immerhin. Die 250 km, die vor mir liegen, schrecken mich ab – bisher bin ich maximal 180 gefahren, zwar am Stück, aber auf Asphalt – bei diversen Jedermannrennen in Belgien oder den Alpen. Die Orbit-Strecke führt größtenteils über nicht-asphaltierte Wege, was gerade bei Steigungen weitaus anspruchsvoller sein kann. Wie werden sich die Beine anfühlen, im unbekannten Terrain?
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Drei Taschen sind am Canyon Grail befestigt, die schwerste mitsamt des Zelts hinten an der Sattelstütze. Ich bin immer wieder erstaunt, wie vergleichsweise agil das Rad trotz der Beladung bleibt, und selbst steile Anstiege sind mit der Übersetzung (Kompaktkurbel 50/34 plus 11-40er-Kassette hinten) zu bewältigen.
Durch den Grüngürtel, die Lunge Kölns, geht es stadtauswärts, man passiert den Otto-Maigler-See und die Brühler Seenplatte, der Großstadtlärm ist hier schon fern. Es ist selbst für einen Kölner erstaunlich, wie schnell man im Südwesten der Stadt schöne Schotterwege findet. Es folgen schnelle Passagen in den Villewäldern hinter Brühl, weite Ebenen zwischen Rhein und der Eifel. Noch ist es flach, es geht durch Dörfer, dann wieder über Feldwege. Erster kurzer Stopp in Euskirchen; vor einer Eisdiele ist ein anderes Gravel-Bike geparkt, voll bepackt, mit Sicherheit ein weiterer Orbiter.
Hinter Euskirchen wird die Landschaft abwechslungsreicher. In der Ferne ist schon der Nationalpark Eifel zu erkennen – in dem es so richtig anspruchsvoll wird. Neben Talsperren gibt es reihenweise steile Anstiege, gefolgt von langgezogenen Abfahrten, aber auch Tragepassagen.Zahlreiche m
Als die Beine müde werden, ertappe ich mich immer wieder dabei, mich in den Kopf des Guides hineinversetzen zu wollen, versuche Muster seines Plans zu erkennen. Was auffällt: Auf heftige (steile, verwinkelte) Passagen folgen meist ruhigere, nach Asphaltstücken sehr bald auch wieder erholsame Schotter- und Waldwege. Kann kein Zufall sein, da denkt jemand mit.
Die Streckenwahl insgesamt ist sehr gut gelungen: Es gibt kaum No-go- bzw No-ride-Passagen, stattdessen ist stets Vielfalt angesagt: viele Waldautobahnen mit Schotter, ab und zu Single Trails, Treckerspurenwege über Felder, manchmal herkömmliche Wiesen. An vielen Stellen sind die Spuren von VorfahrerInnen im Staub zu sehen – auch in NRW ist Orbit 360 offenbar ein Erfolg.
Zwischen Monschau und Schleiden zeigt sich im Naturpark Hohes Venn die typische Hochmoor- und Heidelandschaft, die am Ende der letzten Eiszeit vor 7500 Jahren entstand. Fast 120 km sind absolviert, dazu 1800 der insgesamt 2900 Höhenmeter, es dämmert – Zeit, mir eine Übernachtungsmöglichkeit zu suchen. Eigentlich will ich mir im Wald einen Platz suchen, doch dann kommt ein freundliches Angebot: In Einruhr am Rursee bietet mir der Besitzer einer Eisdiele an, in seinem Garten zu zelten. Gesagt, angenommen, aufgebaut. Nebenan ein wohlverdientes Bier, dazu auf Eurosport die Aufzeichnung der Strade Bianche – der ideale Abschluss eines Tages, an dem ich selbst viele weiße Schotterpassagen genießen konnte.
Der nächste Tag: Ein paar Riegel müssen als Frühstück genügen, bevor es losgeht. Der Track führt weiterhin durch Wälder, führt im Umland von Aachen vorbei. Bald wird die Landschaft wieder städtischer.
Der Track passiert riesige Kraftwerke, bevor die Region rund um Bergheim angesteuert wird: Ins Blickfeld rücken in der Ferne riesige Schaufelradbagger am Tagebau Hambach, mit denen Braunkohle abgebaut wird. Und dann geht es direkt durch den Hambacher Forst – wo erstaunlicherweise weiterhin Aktivisten Protest-Camps besetzen; an einer Stelle sitzen eine Handvoll Aktivisten auf einer Couch mitten auf einer Waldkreuzung: vermummt, bei 30 Grad Celsius.
Im Wald erinnern immer noch Barrikaden an den Kampf um das Waldgebiet im Jahr 2019 – im Januar 2020 hatte die Bundesregierung den Erhalt des Hambacher Forstes vereinbart.
Spätestens als der Weg durch Manheim führt, wird klar, wie wichtig dem NRW-Guide das Thema Braunkohle/Hambacher Forst zu sein scheint. Das ursprüngliche 1600-Seelen-Dorf bei Kerpen muss dem Braunkohle-Tagebau weichen. Eine gespenstische Atmosphäre, die Häuser sind verlassen, die Fenster und Türen verrammelt. Die katholische Kirche wurde entweiht und umzäunt, um in einem anderen Ort wieder aufgebaut zu werden…
Die restlichen Kilometer bis zum Ziel zeigen die bekannte Mischung aus urbanem Umfeld, kleinen Waldgebieten und Schotterwegen. Die Beine fühlen sich am Ausgangspunkt, dem Kölner Fußball-Stadion, nicht komplett zerstört an – eben weil ich die Strecke nicht am Stück gefahren bin. Die Vielfalt der sorgsam ausgewählten Wege und der Landschaft bleiben lange in Erinnerung. Wenn die anderen Strecken der Orbit-Serie ebenso gelungen sind, dürfte die Bilanz im ersten Jahr rundum positiv ausfallen.