Wird Remco der „Kannibale 2.0“? – Ned Boulting im Interview

Ned Boulting gehört zu den größten Kennern des internationalen Radsports. Der britische Sportjournalist und Fernsehmoderator bringt jährlich „The Road Book” (weitere Infos unten auf der Seite) heraus, das wohl schönste Jahrbuch der Radsportwelt. Gerade ist die Ausgabe für 2020 erschienen. Im Interview mit dem R2C2 bilanziert Boulting das nicht nur wegen Corona außergewöhnliche vergangene Jahr – und wagt Prognosen für 2021.

Foto oben: Bioracer

Die neue Ausgabe von „The Road Book” für 2020 zeigt ein gerissenes Logo – nicht nur der gesamte Radsportkalender war zeitweise in Gefahr, Gleiches gilt auch für Ihr „Road Book“. Wie groß war die Angst während des Jahres, dass die neue Ausgabe gar nicht mehr erscheinen könnte?
Wir waren sehr besorgt. Oberflächlich betrachtet: Was macht es schon, wenn ein Buch nicht veröffentlicht wird, im Vergleich zu allem anderen, was in der Welt passiert? Aber wir sind sehr leidenschaftlich an dieses Projekt herangegangen. Ich glaube, dass es bei unseren Lesern umso mehr Anklang findet, weil es sie in gewisser Weise an die bittere Realität eines Jahres erinnert, das alle unsere Gewissheiten beendet hat.

Lassen Sie uns über einige wichtige Trends der Radsport-Saison 2020 sprechen. Auch wenn es zu Beginn des Jahres nicht danach aussah, brachte diese Saison einige der besten Situationen und Szenen im Rennen seit Jahren hervor. Wie erklären Sie sich das? Eine Folge davon, dass Teams wie Ineos ihre Taktik geändert haben?
Ineos hat eine Grand Tour mit einem Plan B gewonnen, der wahrscheinlich nicht einmal realistisch angedacht war, bis es plötzlich auf sie zustürzte. Das ist ihnen bisher noch nie passiert. Und an den anderen Fronten zogen alle Plan-A-Fahrer den Kürzeren: Carapaz bei der Vuelta (aber nur knapp) und Bernal bei der Tour (deutlich). Das öffnete also die Tür für andere, auch wenn Jumbo Visma die Rolle von Ineos im Peloton übernommen zu haben scheint. Aber der weitaus größere Einfluss kam von der neuen Generation von Rennfahrern: Hirschi, Evenepoel, Pogačar und Van Aert im Besonderen.

„Nibali scheint Jahr für Jahr um weitere 10 Prozent zurückzufallen.“

Was bedeutet das für die Froomes und Nibalis der Profi-Szene? Haben sie noch eine Chance, jemals wieder an der Spitze mitzumischen?
Nein. Ich sehe noch keine Anzeichen dafür, dass Froome bei einem Radrennen auch nur in die Nähe der Spitze kommt, und Nibali scheint Jahr für Jahr um weitere 10 Prozent zurückzufallen.

2020 könnte demnach ein Jahr gewesen sein, das in Sachen aufstrebende Talente sogar 2019 schlägt. Gilt das auch fürs Frauen-Peloton?
Die beiden Pelotons haben sich unterschiedlich verhalten. Ich glaube tatsächlich, dass das Frauen-Peloton 2020 weniger Fahrerinnen zugelassen hat, die einen Durchbruch erlebten, als sonst, denn van Vleuten, van der Breggen und Deignan haben durchgehend allen die Tür vor der Nase zugeschlagen. Das Talent von Mavi Garcia war auffällig, aber sie ist kaum ein Newcomer. In der Zwischenzeit müssen wir noch ein wenig warten, um zu sehen, welchen Einfluss Chloé Dygert auf den Sport haben wird.

Chloé Dygert ist erneut Ihre „Junge Fahrerin des Jahres”. Was erwarten Sie dieses Jahr von ihr?
Das ist schwer zu sagen. Die Verletzung sah ziemlich ernst aus, und solange sie sich nicht in der Hitze eines Rennens getestet hat, kann man ihre Chancen auch nicht einschätzen. Die Frage ist, ob sie all diese Kraft mit Rennhandwerk und Taktik nutzen kann oder nicht. Wenn sie das kann, dann könnte sie sich in den kommenden Jahren als eine unaufhaltsame Kraft erweisen.

„Ich hoffe auch inständig, dass Cecilie Uttrup Ludwig eines Tages einen großen Sieg einfährt. Das wäre fantastisch.“

Welche anderen aufstrebenden Talente sehen Sie bei den Frauen?
Liane Lippert ist 2020 sehr gut gestartet, und ich erwarte mehr von ihr. Auch Demi Vollering und Lorena Wiebes werden sicher weiterkommen. Und Lizzy Banks ist auch eine spannende Fahrerin, die man beobachten sollte. Aber es gibt hier noch so viel mehr von der „alten Garde“, einschließlich Chantaal van den Broke-Blaak und Elisa Longo Borghini. Ich hoffe auch inständig, dass Cecilie Uttrup Ludwig eines Tages einen großen Sieg einfährt. Das wäre fantastisch.

Bei den Männern wird Remco Evenepoel – der jüngste Sieger eines World Tour-Rennens – manchmal als der „neue Merckx“ oder, in Ihren Worten, als „Kannibale 2.0“ bezeichnet. Wird er bei seiner Rückkehr ins Peloton den Erwartungen gerecht werden können?
Meine Befürchtung ist, dass das nicht der Fall sein wird. Meine inbrünstige Hoffnung ist, dass er es wird. Vor dem Unfall hat er vier Etappenrennen in Folge gewonnen. Das ist wirklich „Merckxianisch“. Ich bin mir nicht sicher, ob er diesen Weg auch ohne Verletzung hätte fortsetzen können. Wir werden es einfach abwarten müssen.

Wer sind die interessantesten deutschen Nachwuchstalente, männlich und weiblich?
Liane Lippert habe ich bereits erwähnt. Sie führte die WWT-Wertung während des Lockdowns an, und obwohl ihre Ergebnisse während des restlichen Jahres etwas schwächer wurden, denke ich, dass sie eine großartige Allround-Fähigkeit hat, die sie bald große Rennen gewinnen lassen wird.
Max Schachmanns Siege in Paris-Nizza sowohl 2020 als auch 2021 waren sehr beeindruckend. Es wird interessant sein zu sehen, was er als nächstes mit seiner Karriere macht, ob er anfängt, speziell für eine mögliche GC-Rolle bei Grand Tours zu trainieren oder ob er sich weiterhin auf die Ardennen und einwöchige Etappenrennen konzentriert. Er befindet sich an einem Scheideweg.

„Die Zeiten, in denen man losfahren und fünf Minuten bei einer Bergankunft holen kann, um es dann am nächsten Tag wieder zu tun, scheinen vorbei zu sein.“

Primož Roglič gewann die Vuelta a España mit nur 24 Sekunden, Tadej Pogačar die Tour de France mit 59 Sekunden und Tao Geoghegan-Hart den Giro mit 39 Sekunden Vorsprung. Das waren die kleinsten Sieger-Abstände aller drei Grand Tours in diesem Jahrhundert. Wie erklären Sie sich das? Wird das Leistungsniveau an der Spitze immer ähnlicher?
Ich zögere, das zu sagen, denn die Geschichte des Radsports hat eine Art, einen dumm aussehen zu lassen – aber ich denke, es ist symptomatisch für eine sauberere Ära. Die Zeiten, in denen man losfahren und fünf Minuten bei einer Bergankunft holen kann, um es dann am nächsten Tag wieder zu tun, scheinen vorbei zu sein. Sehr oft kommen die Attacken erst auf den letzten 500 Metern, à la Roglič. Außerdem haben die Rennorganisatoren die Länge der Zeitfahren nun schon seit langem Jahr für Jahr gekürzt.

Der Sieg von Tao Geoghegan Hart war aus Ihrer Sicht der unerwartetste Grand-Tour-Erfolg seit Generationen. Wird es immer schwieriger für Expertinnen und Experten, die Sieger der Grand Tours im Voraus zu erraten?
Ich denke, sein Sieg war eines der überraschendsten Grand Tour-Ergebnisse der Geschichte. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich zustimme, dass es immer schwieriger wird, sie vorherzusagen. Aber von den drei Grand Tours scheint es, dass der Giro die am wenigsten vorhersehbaren Sieger hervorbringt, vor allem weil die dominierenden Fahrer, die es mit der Tour de France ernst meinen, heutzutage nie versuchen, zuerst den Giro zu gewinnen und dann das Double zu schaffen. Contador war der letzte Fahrer, der das versucht hat (abgesehen von Froome im Jahr 2018), und es hat sich gezeigt, dass es nicht funktioniert.

Während des fast weltweiten Corona-Lockdowns haben Everestings und E-Cycling-Rennen die Lücke gefüllt. Was ist Ihre Meinung zu diesen neuen Formaten?
Ich bin an ihnen überhaupt nicht interessiert. Ich denke, sie haben einen Wert für diejenigen, die sich dafür interessieren, und was sie für die Gleichberechtigung im Frauenrennsport tun, ist sehr wichtig. Aber, nein, nicht für mich.

„Roglič schafft es endlich, die Tour zu gewinnen“

Ihr „Road Book“ stellt oft interessante Trivia zusammen. Können Sie uns bitte drei verblüffende Beispiele nennen?
Mir hat unsere Infografik über die „Siegerkurven“ der Fahrer sehr gut gefallen. Wir haben uns alle daran gewöhnt, Diagramme von Covid-Fällen anzuschauen. Aber wenn man sich ähnliche Kurven ansieht, um die Karriere eines siegreichen Fahrers zu verfolgen, ist das unheimlich interessant. Der Unterschied, zum Beispiel, zwischen Vos und Cavendish oder Sagan und Alaphilippe.


Hier ist eine weitere interessante Erkenntnis: 2020 gewann Mads Pedersen sein zweites World Tour-Rennen an seinem zweiten Tag, nachdem er das Regenbogentrikots abgegeben hatte (bei der BinckBank Tour)
Und noch eine: Robbie McEwen gewann 12 Etappen bei der Tour. Der zweitbeste australische Sprinter bei der Tour de France ist Caleb Ewan; aber er hat nur 5 Siege, 7 weniger als McEwan.
Und noch eine: Lizzie Deignan wurde die erste nicht-holländische Fahrerin, die Lüttich-Bastogne-Lüttich gewann.

Was wird die wichtigste Schlagzeile für die Saison 2021 sein?
Roglič schafft es endlich, die Tour zu gewinnen.

Über das „Road Book“ 2020

Es gibt sie weiterhin im digitalen Zeitalter: die Print-Dinosaurier, die es trotz Facebook und Twitter, Kindle, Wikipedia und Google geschafft haben zu überleben. Es sind freilich immer weniger geworden als noch im Vor-Internetzeitalter, als hierzulande der inzwischen verstorbene „Brockhaus“ ein Dauergast in deutschen Bücherregalen war. Aber es gibt sie immer noch. Zu nennen ist der „Wisden Cricketers’ Almanack“, die Bibel des Cricket genannt, ein britisches Nachschlagewerk über den Cricketsport, das seit 1864 jährlich erscheint und die Cricket-Welt in Zahlen und Fakten zusammenfasst. Auch in anderen Sportarten gibt es weiterhin gedruckte Jahrbücher, die zumindest für einen Liebhaber-Kreis unverzichtbar sind.

Seit Ende 2018 hat auch die Radsportwelt ein solches Nachschlagewerk. „The Road Book“ ist der Titel des ambitionierten Unterfangens von Ned Boulting. Der bekannte britische Radsport-Journalist hat gemeinsam mit dem Statistik- und IT-Experten Cillian Kelly und zuletzt Jonny Long jährlich das gesamte Renngeschehen eines Jahres zusammengetragen, auf 700 bis 1000 Seiten (fast 2 kg schwer). Kürzlich ist die dritte Ausgabe des „Road Book“ erschienen.

Zum Inhalt:

  • Das Kompendium umfasst auf 704 Seiten eine außergewöhnliche Saison mit den drei Grand Tours.
  • Daneben werden sämtliche Rennen der UCI-WorldTour-Serie (insgesamt 101 Rennen, 319 Etappen) bei den Männern und Frauen statistisch durchleuchtet. Jeweils mit Zusammenfassungen des Rennverlaufs, Ergebnislisten (auch aller Etappen), Infos zu Temperaturen, Windverhältnissen, Höhenprofilen und Ausreißergruppen.
  • Alle Fahrer von 57 Teams werden aufgelistet.
  • Im Vergleich zu den Ausgaben 2018 und 2019 enthält die neue Ausgabe noch mehr Essays, teilweise von sehr prominenten Autoren: Anna van der Breggen, Tao Geoghegan Hart oder Wout van Aert.

Wie bereits beim ersten „Road Book“ dehnt sich die Lektüre gerne über Stunden aus. Denn die Essays gehören zu den besten der Radsportberichterstattung. Die Statistik-Verliebtheit der Herausgeber äußert sich wiederum in zahlreichen Infografiken, die man sonst selten bis gar nicht findet.

Für die Datensammlung wurde übrigens Künstliche Intelligenz eingesetzt: So wurden beispielsweise Texte von Radsportjournalisten automatisch ausgewertet, um die Ausreißer einzelner Rennen herauszufiltern.

Dass die Lektüre des Almanachs so viel Spaß macht und Erkenntnisse verschafft, ist der Tatsache geschuldet, dass „The Road Book“ eben in seiner Vielfalt mehr ist als eine ausgedruckte Enzyklopädie. Auch im Internet gibt es exzellente Datenbanken zum Radsport, allen voran Procyclingstats. Hier gibt es ebenfalls exzellente Recherchemöglichkeiten, die Web-Datenbank ist in vielen Punkten auch dem Print-Kompendium überlegen (wenn es beispielsweise darum geht, mit dem Klick auf den Namen des Fahrers zu erfahren, wo dieser in welchem Jahr angetreten ist). Und doch macht sind es gerade die Hilfestellungen und Einordnungen der Herausgeber – Essays, Infografiken – zum statistischen Teil, die das Angebot abrunden. So bleibt zu hoffen, dass dieser noch junge Dinosaurier ein langes Leben genießen wird.

Ned Boulting: The Road Book 2020, Hardback, 704 pages, Price: £50

Hier kann das Buch gekauft werden.

Die Verlosung

Wir verlosen unter R2C2-und Radclub-Mitgliedern ein Exemplar von „The Road Book 2020“. Schreibt bis Sonntag, 4. April, 23 Uhr, eine Mail mit eurem Namen, Mitglieder- bzw Abonummer und postalische Adresse an mitgliederservice@radclub.de. Unter allen Teilnehmern wird der Sieger ausgelost.

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