Istria300: Die Bora – kalt, brutal, moralzermürbend

Anfang Oktober hat „Istria300“ die kroatische Küstenstadt Poreč in einen Magneten des Jedermann-Radsports verwandelt. Aus dem Radclub war Hartmut Ulrich beim Radmarathon auf der kroatischen Halbinsel dabei. Ein einzigartiges Erlebnis: tolle Organisation, malerische Landschaft – wäre da nicht der Wind gewesen. Sein Bericht:

Der Start am frühen Morgen (Fotos: Sportograf)

Vorletztes Wochenende einen Abstecher nach Kroatien gemacht: Papi quält sich beim Radrennen, Familie genießt ein spätsommerliches Wochenende an der Mittelmeerküste. 19 Grad immerhin noch, volle Sonne. Papi: Istria300 am Samstag dem 9. Oktober 2021. Nach dem vergeigten Corona-Shit und dann der Absage in 2020 dieses Jahr nun Premiere für die “neue” Istrien-Rundfahrt. Die Landschaft der istrischen Halbinsel ist supertoll, mit Start im schönen Küstenstädtchen Poreč, ein paar Kilometer südlich von Novigrad. Perfekt organisiertes Radrennen, alle Straßen gesperrt, tolles Event zum Abschluss der Radsaison (für mich, hmhm, das einzige Rennen dieses Jahr). Jedenfalls MUSSTE ich da hin – nachdem ich beim Münsterland Giro die Woche zuvor gekniffen hatte: Die Aussicht, das Wochenende für ein Radrennen auf nassen Straßen im kalten Regen viele Stunden unterwegs zu verbringen, fand ich nur so mittel verlockend.

„Was ist, wenn du nach 150 Kilometer in den Hungerast fährst?“

Bei der Detailplanung für die Istria300 ging mir dann aber doch die Düse. Nicht wegen der puren Distanz, sondern wegen der Zeitlimits auf der Strecke und des Cutoffs am Schluss: Du musst mindestens einen 25er-Schnitt aufs Parkett legen, um auf 300 Kilometern unter zwölf Stunden zu bleiben. An sich kein Thema – aber nicht mit 5.300 Höhenmetern. Da hast du im Vorfeld dann schon ein paar schlaflose Nächte: Soll ich das echt machen, ey? Und wenn die Beine nicht gut sind? Alter, du hast dieses Jahr kaum mit Plan trainiert (5k), vor allem viel zu wenige Höhenmeter (35k), gemütlich an der Isar zur Arbeit pendeln reicht vielleicht nicht so ganz. Das angeknackste Mittelfußgelenk vom Abflug mit dem MTB im August zickt auch immer noch, biste bekloppt? Essen und Verpflegungspausen? Was ist, wenn du nach 150 Kilometer in den Hungerast fährst? Wie hart sind die Anstiege tatsächlich, du bist doch sonst eher kacke am Berg, übermütig geworden oder was? Wahrscheinlich explodierst du nach nicht mal 2.000 Höhenmetern, dann kannste dich vom kroatischen Besenwagen aufkehren lassen. Findest du eine Gruppe, mit der du mitfahren kannst oder kannst du bei den ganzen Cracks da am Start nirgendwo am Hinterrad bleiben? Nichts ist frustrierender als ein DNF in der Tabelle (did not finish). Habe mich dann mit der Aussicht getröstet, dass die Veranstalter “Notausstiege” für 155 und 235 Kilometer auf der Strecke ausgeschildert hatten, für alle, die zu hart am Limit segeln würden.

Hartmut (links) mit guter Laune – noch windgeschützt in der Gruppe…

Segeln ist dann auch genau das richtige Stichwort: So einen Wind habe ich noch nicht vorher erlebt, bei einem Radrennen! Der Wind hat das ganze Spiel verändert. Distanz egal, Höhenmeter egal – Wind nicht egal. Ganz im Gegenteil. Die Bora, wie der kalte Fallwind aus Nordosten hier heißt, ist die kroatische Variante des Mistral. Kalt, brutal, moralzermürbend, von Anfang an, ein richtiger Scheißwind. In der ersten Hälfte der Runde konstant mit Windgeschwindigkeiten von 28-30 km/h von vorn, dann von der Seite, in Böen teilweise mit 60, 70 km/h, volle Kalotte. Noch nie habe ich ein ganzes Feld so schräg im Wind stehen sehen wie an diesem Wochenende. So einen Scheißwind kenne ich eigentlich nur von Hochtouren oberhalb von 4.000 Metern. Die Bora: Wieder was gelernt, auf die harte Tour.

„Entspannt vor sich hinpennen ist nicht. Du musst permanent selbst arbeiten, voll konzentriert fahren.“

Als der Split kam und die Entscheidung, ob 300 oder 235, habe ich jedenfalls keine Sekunde gezögert. Das Feld war eh schon vollkommen zerrissen, Amateure fahren eben nicht organisiert und taktisch, da fährt irgendwie jeder für sich, was hintenraus natürlich maximal dämlich ist. Als geschlossenes Peloton wären alle zusammen schneller. Und weniger kaputt. Kaum noch möglich, eine gute Gruppe zu finden. Ohnehin taugt das Geländeprofil in Istrien nicht für taktische Lutscher: Es geht entweder rauf – oder runter, und zwar richtig. Steil, hart, technisch. Entspannt vor sich hinpennen ist nicht. Du musst permanent selbst arbeiten, voll konzentriert fahren, die Straßen voller Risse, Rillen und Löcher. Die Bremsen fangen an zu quietschen, Beläge leider verglast, juhuu!

…bald aber der Bora alleine ausgeliefert.

Obwohl nach Aussagen des Veranstalters 60 Prozent der 735 Starter die 300 Kilometer in Angriff zu nehmen gedachten (ich auch), waren es am Ende nur 122, die es tatsächlich durchzogen. 336 Teilnehmer entschieden sich auf der Strecke für die halb so lange Variante von 155 Kilometern, 173 für die Mitteldistanz von 235 Kilometern (ich auch). 78 Starter kamen gar nicht an: Aus der Wertung geflogen, Zeitlimit überschritten, aufgegeben. Für eine Wettbewerbspremiere ist das ne beachtliche DNF-Quote: Das Motto “Ride your Limits” wurde sichtbar.

„Man muss ein Stück weit bekloppt sein, um sich das freiwillig anzutun“

Bei mir standen an der Ziellinie nicht 235 Kilometer auf dem Radcomputer, sondern 222,8. Und nicht 3.600 Höhenmeter, sondern 3.988. Vielleicht hat mein WAHOO Elemnt ja ein bisschen falsch gemessen. Aber ob 3.600 oder knapp 4.000 Höhenmeter: Ich finde, das reicht für einen Tag, ohne beschämt im Boden versinken zu müssen als alter Sack. Mit einem Schnitt von 27,8 Stundenkilometern (die sechs Minuten Standzeit an drei Verpflegungspunkten eingerechnet war es ein Schnitt von 26,6 km/h) und Platz 51 von 173 Teilnehmern auf der Mitteldistanz über alle Altersklassen. Mist, die Pace hätte ja doch recht locker für die 300 gereicht! Hätte hätte Fahrradkette – hinterher ist man immer schlauer. Es wäre sogar noch ein bisschen mehr drin gewesen – aber bei einem 300er-Ziel ballerst du am Anfang natürlich nicht gleich mit dem Messer zwischen den Zähnen los, sondern teilst dir das ein bisschen ein. Vollgas erst, wenn die gröbsten Anstiege hinter dir liegen – und Flasche noch nicht leer.

Die Zieleinfahrt

Genau: Man muss ein Stück weit bekloppt sein, um sich das freiwillig anzutun. Es gibt aber auch nur wenige Erlebnisse im Leben, die derart intensiv sind. Außer in den Alpen natürlich. Ob ich aber je wieder so ein Rennen mit so einem Wind fahren will, muss ich mir noch gut überlegen. Obwohl, das ist gelogen: Natürlich will ich. Ich weiß jetzt ja, was mich erwartet (hallo Bora!). So ist das mit dem Radsport: Kaum bist du im Ziel, sind die Schmerzen vergessen, und du denkst auch schon ans kommende Jahr. Wahrscheinlich hört das niemals auf. Und wisst ihr was: Genau das ist es, was das Leben lebenswert macht.

hollereiduliöh

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